Das große Problem mit „größeren Problemen“

Es gibt Godwin’s law. Godwin’s law besagt: Früher oder später kommt in jeder Diskussion ein Nazi-Vergleich auf.

Früher oder später kommen in Diskussionen aber noch ganz andere Dinge auf Und diese Gesetze haben nicht immer einen Namen.

Schade eigentlich. Hätten alle Debatten-Phänomene einen Namen, könnte man sie besser im „Diskussions-Bingo“ aufzählen und abhaken.

Nun, dann definiere ich einfach mal „schneeschwade’s law“: In jeder Diskussion wird es früher oder später heißen: „Es gibt wichtigere Probleme.“ Gerne auch als rhetorische Frage formuliert: „Habt ihr denn keine anderen Probleme?“ oder auch „Solange wir noch solche Probleme haben, muss es uns ja gut gehen.“

Wie die geneigte Leserschaft unschwer erkennen wird, halte ich von derlei Argumentation nicht viel. Genau genommen: Ich halte nichts davon. (Was nicht heißen soll, dass ich mich nicht manchmal – natürlich aus Versehen – ihrer bediene. Aber Wasserweinpredigten sind ein anderes Thema.)

Warum ist das so? Ganz einfach: Es gibt immer größere Probleme.

Das größte Problem eines jeden Menschen ist das Atmen. Ohne ausreichende Sauerstoffzufuhr sind die meisten Lebewesen binnen Minuten tot. So auch der Mensch.

Hat das Menschenwesen aber das Belüftungsproblem (zumindest temporär) gelöst – sprich: befindet es sich in einem Raum mit genügend Sauerstoff – kann es sich dem zweitgrößten Problem widmen: Wasser. Ohne Wasser kommt das Menschenwesen zwar länger aus als ohne Luft, aber die Zeitspanne des menschlichen Daseins ohne Wasser ist keinesfalls das, was man „ein langes und erfülltes Leben“ nennen könnte.

Und spätestens hier wird die Absurdität des Scheinarguments deutlich: Haben Sie schon einmal einem Verdurstenden, der nach Wasser lechzt, zugerufen: „Warum willst du denn Wasser? Du hast schließlich ein größeres Problem, sieh gefälligst zu, dass du immer und überall genug Luft bekommst!“

Nun könnte man einwenden, dass solche basalen, ja existenziellen Dinge freilich ausgenommen seien vom „Es-gibt-doch-Wichtigeres“-Argument. Schließlich gehe es hier doch um Leute, die den lieben langen Tag Falschparker_innen anzeigen, Plagiatsdokumentaristen und andere, die Überflüssiges betreiben: Die seien es, die größere Probleme haben sollten, nicht Verdurstende!

Die Schwierigkeit besteht darin, dass es diese Grenze zwischen „basalen“ Problemen und „überflüssigen“ Problemen nicht gibt. Oder genauer gesagt: Sie wird erst in dem Moment gezogen, wo jemand das „Hast-du-denn-nichts-Besseres-zu-tun“-Argument bringt. Erst damit wird die Linie aufgestellt: Das eine ist in den Augen des Sprechers ein ernstes Problem, das andere nicht.
Sprich: Jeder zieht die Grenze anders.

Es besteht allerdings gar kein Grund, die Grenze überhaupt zu ziehen. Sie ziehen zu wollen, heißt einfach nur: zu ignorieren, dass Menschen verschieden sind. Dass unterschiedliche Menschen unterschiedliche Prioritäten setzen, dass Manches für manche wichtiger ist. Dass anderen Anderes egal ist. Dass Menschen ihr Leben aus freiem Willen und Entschluss Dingen widmen, die 99% der Bevölkerung am Allerwertesten vorbeigehen.

Natürlich steht es jeder und jedem frei, andere von der Richtigkeit der eigenen und der Falschheit der anderen Prioritätensetzung zu überzeugen. Aber dafür braucht es Argumente (oder Macht. – Aber das ist ein anderes Thema), keiner Scheinargumente.

Denn im Grunde heißt „Es gibt größere Probleme“ nichts anderes als „Ich setze andere Prioritäten und ich will, dass alle anderen die gleichen Prioritäten setzen.“ Und das ist kein Argument, das ist eine Forderung.